Demenz oder Trauma?
Ähnlichkeiten und Unterschiede

Erleben und Erinnern:
Vom Leibgedächtnis und Faktengedächtnis

Es gibt Menschen mit Demenz, die ihren Namen und ihre Angehörigen nicht mehr kennen, beim Singen eines Liedes aber plötzlich alle Strophen auswendig singen können. Wenn sie einen Baum sehen, der sie an den Baum neben dem Haus ihrer Kindheit erinnert, können sie Geschichten aus ihrem Leben erzählen, die ihnen sonst nicht mehr zugänglich waren. Die Mobilisierung des Gedächtnisses beim Walzertanzen kann plötzlich die Fähigkeit wieder beleben, die eigene Frau wiederzuerkennen – was vielleicht Monate lang nicht mehr möglich war.

Mit der Vorstellung eines isolierten kognitiven (also vernünftigen, auf das Denken bezogenen) Gedächtnisses allein, lassen sich diese typischen Verhaltensmuster, wie sie in der Demenz oder auch als Traumafolge zutage treten, nicht verstehen. Neben dem eher vernünftig organisierten Fakten- und Zahlenspeicher, gibt auch ein Gedächtnis der Sinne, der Klänge, der Beziehungen: ein Gedächtnis des Erlebens. In Psychologie und der therapeutisch-beraterischen Praxis wird dieses Gedächtnis des Erlebens als Leibgedächtnis bezeichnet. Leib kennzeichnet in der philosophischen Tradition den erlebenden Menschen.

Im Umgang mit demenzkranken Menschen ist die Existenz des leiblichen Gedächtnisses eine große Chance. Wo das „einfache“ Erinnern nicht mehr gelingt, können andere Gedächtniselemente, wie das Körpergedächtnis oder das musikalische Gedächtnis genutzt werden. Wertvolle Ressourcen lassen sich erschließen, wenn es gelingt hier anzuknüpfen. Wenn Menschen, die sonst kaum noch laufen können, plötzlich wieder tanzen, weil für sie der Klang eines Tangos, der Klang eines Walzers so ergreifend ist, dass sie in Bewegung kommen, körperlich und seelisch, dann zeigt das die Kraft des Leibgedächtnisses. Diese Ressource in der Begleitung alter Menschen zu nutzen und nicht bei ihren Unzulänglichkeiten anzuknüpfen, birgt die Chance, den alten Menschen nicht zu beschämen.

Bei den Kriegstraumata sind jedoch die sinnlichen Gedächtniselemente das zentrale Problem. Was bei der Demenz Ressource und Chance ist, ist bei Kriegstraumata oft das Drama. Über die sinnlichen Eindrücke mobilisiert das Leibgedächtnis das frühere Traumaerleben. Auch hier hilft der Verweis auf den „Verstand“ („Das ist doch alles lange vorbei!“) nicht. Sinnliche Erfahrungen, die Schrecken hervorrufen, müssen vielmehr durch sinnliches Erleben des Trostes, der Geborgenheit, der Sicherheit ersetzt werden.