Was hilft bei später (Re-)Traumatisierung?

Sechs Wege der Unterstützung - und erste Hinweise zur Selbsthilfe.

Wenn Menschen unter den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden, brauchen die meisten von ihnen Unterstützung. Die wichtigsten Schritte dabei ergeben sich aus den zentralen Erkenntnissen aktueller Psychotraumatologie.

1. Reden und mitteilen

Menschen, die sexualisierte Gewalt, Kriegsschrecken oder andere traumatische Ereignisse erleben mussten, bleiben in der Regel mit ihren leidvollen Erfahrungen in der Zeit danach allein. Sie fühlen sich nicht gesehen oder gehört. Das Ergebnis ist, dass viele meinen, die Folgen solcher traumatischen Ereignisse allein bewältigen zu müssen. Doch das gelingt nur schlecht und meist nicht auf Dauer. Nur darauf zu setzen, dass die Zeit alle Wunden heilt, ist eine Illusion. Deswegen ist es notwendig und immer sinnvoll, sich zumindest einen Menschen zu suchen, dem sie von ihren Erfahrungen erzählen können. Wenn schlimme Ereignisse ausgesprochen werden, bleiben sie nicht mehr in den Menschen eingesperrt, sondern werden laut und damit hörbar.
Selbstverständlich ist es nicht möglich, beliebigen Menschen existentielle Schreckenserfahrungen mitzuteilen. Es braucht Menschen des Vertrauens. Das können Freunde, Freundinnen oder Verwandte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Beratungsstelle oder Therapeutinnen oder Therapeuten sein. Doch auch wenn die Gesprächspartner Profis der Therapie oder Beratung sind, ist Vertrauen grundlegend und es muss geprüft werden, ob man diesem Menschen vertrauen wird oder nicht.
Ein guter erster Schritt kann auch darin bestehen, die eigenen Erfahrungen aufzuschreiben. Später können Selbsthilfegruppen, Erzählcafés oder andere Angebote folgen, um das eigene Erleben zur Sprache zu bringen und Gehör zu finden.

2. Gefühle zeigen

Nach einer traumatischen Erfahrung, fühlen sich viele Menschen wie erstarrt oder eingefroren. Oft sind sie wie betäubt, manchmal machen sich manche Gefühle auch gleichsam „selbstständig“ und drohen, sie zu überfluten. Angst und Schrecken kommen nicht selten in unerwarteten Momenten, vor allem nachts, wenn die Kontrolle nachlässt, oder werden mit zunehmendem Alter stärker.

Ein traumatisches Erleben zeichnet sich dadurch aus, dass es mehr ist, als der betroffene Mensch bewältigen kann. Deswegen treten manchmal Menschen zumindest in ihrem Gefühlsleben „neben sich“ („Dissoziation“, siehe Glossar). Das ist ein sinnvoller und oft notwendiger Schutz. Auf Dauer aber beeinträchtigt das gefühlsmäßige Beiseitetreten die Lebendigkeit und die Wahlmöglichkeiten des Lebens. Deswegen ist es gut und sinnvoll, sich wieder den Gefühlen zu widmen und bewusst dem Gefühlsleben Raum zu geben - am besten nicht oder nicht überwiegend allein sondern gemeinsam mit anderen, die Unterstützung geben. Ein wichtiger Schritt besteht auch hier darin, über die eigenen Gefühle zu reden. Wenn diese nicht zugänglich sind, ist es hilfreich, einen Moment innezuhalten, vielleicht (miteinander) die Hand aufs Herz zu legen und eine Minute lang in sich hinein zu spüren und sich zu fragen: Was spüre ich gerade? Was sagt mein Herz? Was fühle ich?
Es gibt weitere Möglichkeiten, zum Beispiel: Gefühle malen, musizieren oder sich beim Hören von Musik fragen: Welches Gefühl verbinde ich damit?

3. Sicherheiten schaffen

Wenn Menschen daran gehen, die Folgen traumatischer Erfahrungen, die sie in ihrem Leben einschränken, zu bewältigen, werden sie immer wieder dem Schrecken des Traumas und den damit verbundenen Bildern und Gefühlen begegnen. Sie brauchen dazu viel Sicherheit und Halt. Begegnungen mit anderen Menschen sind eine der wichtigsten Quellen für diese Sicherheit, auf die es dabei ankommt. Deswegen ist es notwendig sich zu überlegen, welche der Menschen im näheren und auch weiteren Verwandtschafts-, Freundes- oder Bekanntenkreis für Sicherheit stehen und Halt geben. Möglichst mit ihnen zusammen ist zu überlegen: Was gibt mir Sicherheit? An welchem Ort fühle ich mich sicher? Welche Musik, welcher Geruch, welche Bilder geben mir Halt? Und vor allem: Wer gibt mir Halt?
Die Telefonnummer dieser Menschen sollte man immer für den Notfall bei sich tragen.

4. Ein gutes Körpererleben fördern

Traumatische Erfahrungen sind Schockerfahrungen, die sich immer auch auf den Körper auswirken, zu Anspannungen führen oder dazu, dass manche Teile des Körpers schmerzen und andere weniger oder gar nicht gespürt werden. Deswegen tut es gut, das positive Erleben des Körpers zu fördern, sich in ihm (wieder) wohnlich einzurichten. Dazu kann beitragen: Sport zu betreiben oder zu tanzen, in die Sauna zu gehen, sich eine Massage zu gönnen oder  Atemachtsamkeitsübungen durchzuführen. Es darf Kampf gegen den Körper geführt werden, es geht auch nicht um „Richtig“ oder „Falsch“ oder um Leistung, sondern darum, sich im Körpererleben zu spüren und wohl zu fühlen.

5. Dem Trauma begegnen

Die Ergebnisse der Traumaforschung zeigen überwiegend: Wenn Traumafolgen nachwirken und zu bedeutsamen Beeinträchtigungen des Lebensglücks führen, ist es notwendig - im Sinne von „die Not wendend“ - sich dem traumatischen Geschehen noch einmal zu stellen und ihm zu begegnen. Gemeint ist damit auf gar keinen Fall, dem Täter zu begegnen oder wieder eine ähnliche Situation aufzusuchen. Es bedeutet vielmehr, das traumatische Erleben nicht weiterhin wegzudrängen, sondern sich in der Vorstellung und in der Erinnerung noch einmal mit dem traumatischen Erleben zu beschäftigen.
Aus dem traumatischen Ereignis sind die betroffenen Menschen oft hilflos und als Opfer herausgekommen. Nun geht es darum, anders „herauszukommen“, sich aufzurichten und einen aufrechten Weg aus der Erniedrigung zu suchen und zu finden. Damit der Prozess gelingt, gelten zwei wichtige Voraussetzungen: Erstens darf die Begegnung mit dem Trauma nicht allein geschehen, sondern muss mit vertrauensvoller und vertrauenswürdiger Begleitung erfolgen. Zweitens ist es notwendig, für sich und miteinander möglichst viel Sicherheit und Boden geschaffen zu haben, um sich dem Erlebten zu stellen und es zu bewältigen.

6. Sich würdigen, konkret!

Eine traumatische Erfahrung ist sehr häufig eine Erfahrung der Entwürdigung, vor allem eine entwürdigende Beziehungserfahrung. Die eigene körperliche und seelische Unversehrtheit wurde durchbrochen und nicht geachtet, das eigene „Nein“ wurde nicht gehört. Deswegen besteht der Weg der Traumabewältigung immer auch darin, sich selbst im Alltag mehr zu würdigen, also die eigenen Impulse und Wünsche wahrzunehmen und zu achten. Dazu gehört, immer wieder ganz konkret zu entscheiden: „Was will ich und was will ich nicht?“, also „Ja“ oder „Nein“ zu sagen. Diese Entscheidungsfähigkeit wieder zu gewinnen, ist nicht selbstverständlich. Sie bedarf der Übung, oft auch der Begleitung und Unterstützung durch andere. Es ist in jedem Fall ein Weg der sich lohnt.