Fragen und Antworten

Sie erleben - als älter werdender Mensch, als Angehörige oder als Pflegekraft - Situationen, die Ängste oder unerklärliche Gefühle und Reaktionen auslösen? Sie wollen verstehen, woher das Leiden in solchen Momenten rührt, und wie man es lindern kann?

Trauer kann Erinnerungen an Gewalterfahrungen auslösen

Ich wohne mit meiner Frau und unseren zwei Kindern neben meinem Elternhaus. Mein Vater ist vor einem halben Jahr verstorben. Meine Mutter Erika (Jg. 1941) lebt seitdem alleine. Eigentlich ist sie ist körperlich und geistig noch sehr fit. Doch seitdem mein Vater gestorben ist, ist sie oft sehr traurig und sucht häufig den Kontakt zu mir. Ihre Traurigkeit scheint aber nicht nur am Tod meines Vaters zu liegen, denn seit einigen Monaten erzählt sie immer wieder von ihrem bereits vor zehn Jahren gestorbenen Bruder Gerhard. Sie sagt, er habe mit ihr Dinge gemacht, die Geschwister niemals machen sollten, die sich nicht tun wollte und dass sie sich so schämen würde. Dabei weint sie und ich kann sie kaum trösten. Ich fühle mich überfordert. Gerhard war mein Lieblingsonkel. Mein Vater hat immer viel gearbeitet und war selten für uns da. Mein Onkel Gerhard dagegen war immer eine wichtige Bezugsperson für mich. Kann es sein, dass er meiner Mutter schlimme Dinge angetan hat? Und warum sagt sie das erst jetzt? Was soll ich nur tun?

Von Missbrauch zu erfahren, löst auch bei Angehörigen oft eine breite Palette an Gefühlen aus. Entsetzen, Zweifel, Unglauben, Trauer. Viele Angehörige sagen: „Das kann und darf doch gar nicht sein!“ - gerade wenn der Täter eine geliebte Person ist.
Angehörige erleben dann häufig ähnliche Gefühle, wie die Betroffenen selbst: Ohnmacht, Hilflosigkeit, Sprachlosigkeit und Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Und genauso wie es Ihnen schwer fallen kann, die passenden Worte dafür zu finden, so konnte ihre Mutter das Erlebte wahrscheinlich auch kaum in Worte fassen. Zudem sind gerade heute alte Frauen in ihrer Sozialisation von dem Glaubenssatz geprägt worden, dass die Beschäftigung mit eigenen Problemen eher ein Luxus ist. Hart arbeiten und funktionieren war häufig die Devise. Wahrscheinlich hat ihre Mutter in ihrem Leben Strategien entwickelt um mit dem Erlebten „zurecht zu kommen“ oder es zu verdrängen. Der Verlust ihres Partners – ihres Vaters – kann dafür sorgen, dass alte evtl. lang verdrängte Erinnerungen wieder zurückkehren. Einsamkeit, Angst vor Abhängigkeit oder einer Pflegebedürftigkeit können Ängste vor erneuten Grenzüberschreitungen schüren.

Für einen Menschen, der sexualisierte Gewalt erfahren hat, ist es sehr wichtig, dass ihm Glauben geschenkt wird. Sie können ihrer Mutter zuhören, ihr Sicherheit vermitteln und für sie da sein. Gleichzeitig ist es wichtig auch auf die eigenen Grenzen zu achten. Sie sind kein außen stehender Therapeut und als Sohn sehr in die innerfamiliären Konflikte verstrickt. Achten Sie auch darauf, was sie brauchen, um mit der Situation umgehen zu können, in welchen Bereichen Sie Ihrer Mutter Trost spenden können und in welchen dafür andere Personen hilfreicher sein können. Vielleicht hat Ihre Mutter ja auch Interesse an der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe oder an einem Beratungsgespräch in einer spezialisierten Beratungsstelle.

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