Manche halten sich für verrückt...

Fluch und Segen des Traumagedächtnisses

Zu den leidvollen Folgen traumatischen Erlebens gehört, dass viele betroffene Menschen von Erinnerungen an das Vergangene überflutet werden. Oft geschieht das plötzlich und sie fühlen sich dem ausgeliefert. Bei anderen sind die Brücken zwischen dem traumatischen Ereignis, das Angst hervorgerufen hat und der Angst, die Jahre später immer wieder kommt, eingebrochen. Die aktuelle Angst wird dann nicht mehr mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung gebracht. Manchmal ist sogar dieses Ereignis ganz in Vergessenheit geraten, so dass nur noch die Angstattacken als Spitze des Eisbergs vorhanden sind.

All diese Phänomene werden verstehbar und verständlich, wenn man sich mit den verschiedenen Aspekten des (Trauma)Gedächtnisses beschäftigt...

Jeder Mensch verfügt über zwei Gedächtnissysteme

Das eine ist das Gedächtnis des Denkens, auch das explizite oder kognitive Gedächtnis genannt. In diesem System merken wir uns Namen und Daten, Fakten und die Reihenfolge der Ereignisse. Dieses Gedächtnissystem wird vor allem in der Schule trainiert. Das zweite Gedächtnissystem ist das Gedächtnis des Erlebens, das Gedächtnis der Sinne und des Körpers. Es wird auch das implizite Gedächtnis oder Leibgedächtnis (nach Leib = Erleben) genannt.

Nachvollziehbar wird das am Beispiel der eigenen Hochzeit:Man erinnert sich vermutlich an das Datum der Heirat, den Ort der Trauung und weiß, wo die Hochzeit gefeiert wurde. Vielleicht kann man auch noch die Namen der Trauzeugen und einiger Gäste nennen. Welche Kleidung aber die Gäste getragen haben und in welcher Reihenfolge sie eintrafen, werden die wenigsten behalten haben. Die wesentlichen Fakten, Daten und Zahlen werden im kognitiven Gedächtnis gespeichert.

Doch die persönlichen Erinnerungen gehen darüber hinaus: Wie man sich gefühlt hat, als man das Ja-Wort gegeben hat, hat man sich sicher gemerkt ebenso wie das Lächeln der Frau oder des Mannes, dazu die Atmosphäre des Festes, den Duft der Blumen, die Musik, das Tanzen...  Stimmungen, Erfahrungen, Empfindungen und Gefühle  bewahrt das Gedächtnis des Erlebens - das Leibgedächtnis - auf.

Zumeist ist das Leibgedächtnis tiefer und anhaltender als das kognitive Gedächtnis. Das Gefühl bei der Hochzeit bleibt in Erinnerung, auch wenn man das Datum des Hochzeitstages vergessen haben mag. Man muss nicht genau wissen, an welchem Datum man das eigene Kind oder Enkelkind glücklich im Arm gehalten hat – aber beinah sicher erinnert man sich, wie stolz und glücklich man war.

Beide Gedächtnissysteme werden gebraucht

Die Erinnerungen des Leibgedächtnisses betreffen aber nicht nur Positives. Vielleicht war die Hochzeit der Beginn einer Geschichte des Scheiterns. Oder: Es gab Situationen, in denen man Angst hatte oder in der Schule ausgelacht oder beschämt wurde... Das Gedächtnis des Erlebens bewahrt positive wie negative Erinnerungen an all das, was bewegt und das Herz berührt hat. Besonders wichtig sind die Gefühle, die im Gehirn durch das Lymbische System wahrgenommen und „verwaltet“ werden. Dieses Lymbische System ist auch aktiv, wenn es um das leibliche Erinnern geht.

Was geschieht bei einem traumatischen Ereignis?

Ein Trauma ist eine Wunde, die als existenziell bedrohlich erlebt wird. Sie wird vor allem im Leibgedächtnis verankert. Das Datum der Vergewaltigung, des Unfalls oder der Bombardierung ist nicht so wichtig wie der Schrecken, der damals durchlebt wurde. Der menschliche Organismus ist darauf ausgelegt, dass  schlimme Erfahrungen erkannt, vermieden und überlebt werden sollen. Dafür gibt es einen besonderen Teil des Lymbischen Systems, die Amygdala. Sie ist zuständig für die Wahrnehmung existenzieller Bedrohungen. Die Amygdala speichert alle existenziell bedrohlichen Erfahrungen, also auch alle Traumata. Und sie überprüft alle neuen sinnlichen Erfahrungen darauf, ob sie eine existenzielle Bedrohung ankündigen und startet dann ein inneres Notfallprogramm: Adrenalin wird ausgeschüttet, Blut v.a. in die lebenswichtigen Organe geschickt usw.

Was kann die Amygdala mobilisieren?

Früher waren es die Säbelzahntiger, heute sind die existenziellen Bedrohungen andere. Wenn ein Mensch im Krieg um sein Leben kämpfen muss oder sich daran erinnert, wird die Amygdala aktiv. Wenn ein Mensch vergewaltigt wurde und Geräusche hört, die ihn daran erinnern, wird die Amygdala aktiv. Sie überlagert alle anderen Gefühle und auch das kognitive Denken. Der Sinn dieser Funktion ist klar: Die Aktivität der Amygdala soll Menschen helfen, existenziell bedrohliche Situationen zu erkennen. Im Fall der Säbelzahntiger war das vielleicht möglich. Aber was ist, wenn ein Kind sexuelle Gewalt von einer nahestehenden Person erfahren hat, die es gern hatte? Als Organ der Warnung wird die Amygdala aktiv, auch wenn Nähe zu einer anderen Person entsteht, die nicht bedrohlich ist. Dann beginnt das Leiden an der traumatischen Erinnerung. Dann wird, was eigentlich zum Schutz gedacht war, zur Einschränkung der Lebensqualität. Das Donnern des Gewitters wird zum Geräusch von Bombenabwürfen, die Berührung eines anderen zum potenziellen Angriff.

Warum verlieren viele traumatisierte Menschen die Erinnerung an das traumatische Ereignis?

Das (scheinbare) Vergessen geschieht um sich zu schützen. Eine traumatische Erfahrung ist eine existenzielle Bedrohung, die die Bewältigungsmöglichkeiten der betroffenen Personen übersteigt. Diese Überforderung kann dazu führen, dass die traumatische Erfahrung abgespalten wird. Man nennt diesen Prozess „Dissoziation“. Doch dieses Abspalten, das unbewusst abläuft, betrifft vor allem das kognitive Gedächtnis - und immer nur Teile des Leibgedächtnisses. Das heißt, das traumatische Ereignis kann nicht konkret eingeordnet, erinnert oder erzählt werden.

Wenn es auch im kognitiven Gedächtnisspeicher keinen „Platz“ gefunden hat, so bleiben doch manche Teile des Leibgedächtnisses wirksam: zum Beispiel die Angst, der Schrecken, die hohe Erregung. Wenn die kognitive Erinnerung an das Ereignis verloren gegangen ist, wirken dann die traumatischen Erinnerungen des Leibgedächtnisses als scheinbar „grundlos“ überflutend und überwältigend.

Manche Menschen, die unter solchen Folgen des Traumagedächtnisses leiden, halten sich für „verrückt“. Das sind sie nicht. Sie leiden „nur“ unter dem Traumagedächtnis. Dieses zu verstehen, kann ein erster Schritt der Erleichterung sein.

Auf einen Blick:
Drei Aspekte zur Wirkungsweise des Leibgedächtnisses

  1. Das Leibgedächtnis und besonders die Amygdala wirken über das Prinzip der Ähnlichkeit. Das Donnergeräusch des Gewitters muss nicht genauso klingen wie das der Bombardierung. Es reicht, dass es ähnlich ist, um die Wirkung hervorzurufen.
  2. Die beiden Gedächtnissysteme wirken parallel. Das kognitive Gedächtnis kann das Leibgedächtnis nicht kontrollieren. Wenn eine alte Frau im Fahrstuhl eine Panikattacke bekommt, weil sie sich eingesperrt fühlt (wie früher in der Besenkammer oder im Bunker), dann hilft es nicht, nur an ihren Verstand zu appellieren und zu sagen: „Das ist doch ein Fahrstuhl, den kennen Sie doch.“ In ihrer Not braucht die Frau vielmehr eine Ansprache, die ihr Lymbisches System und damit ihre Gefühlswelt erreicht.
  3. Das kognitive Gedächtnis erinnert sich an Vergangenes; das Leibgedächtnis aber holt das Vergangene in die Gegenwart, als wäre sie jetzt. Da geht eine Frau durch ein Parkhaus und hört Schritte hinter sich. Ihr Leibgedächtnis und insbesondere ihre Amygdala signalisieren ihr: „Du bist in Gefahr, es ist wieder wie damals, als du verfolgt und vergewaltigt wurdest.“ Die Frau erinnert sich nicht an die frühere Vergewaltigung, sie erlebt sie wieder.

Das kognitive Gedächtnis wendet sich der Vergangenheit zu. Das leibliche Traumagedächtnis macht die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig.