Fragen und Antworten
Sie erleben - als älter werdender Mensch, als Angehörige oder als Pflegekraft - Situationen, die Ängste oder unerklärliche Gefühle und Reaktionen auslösen? Sie wollen verstehen, woher das Leiden in solchen Momenten rührt, und wie man es lindern kann?
Frau M. ist vergesslich und durcheinander. Doch reicht die Diagnose Demenz aus, um ihr Verhalten zu erklären?
Wenn andere vom Krieg erzählen, erstarrt Frau M. Sie sitzt dann regungslos da, scheint kaum noch zu atmen und hat starre, weit geöffnete Augen. Nach einigen Minuten schaut sie hoch, schüttelt sich und steht langsam auf. Dann verlässt Frau M. mit ihrem Rollator langsam, aber zielstrebig und konsequent den Raum. Als der junge Bundesfreiwillige zum ersten Mal ihr Zimmer betritt, um sie zum Kaffeetrinken abzuholen, erschreckt sehr. Nur eine Mitarbeiterin, die sie sehr mag, kann sie beruhigen. Zu der großen Unruhe kommt ihre panische Angst vor dem Dunklen. Sie schläft immer mit einem kleinen Licht und verlässt am Abend nie das Haus.
Kriegskindheit – die Erfahrung einer ganzen Generation
Das Erstarren, wenn vom Krieg erzählt wird oder Kriegsberichte im Fernsehen kommen, ist eine typische Reaktion von Menschen, die im Krieg Schlimmes erlebt haben. Frau Schneider ist 84 Jahre alt. Sie war bei Kriegsende 15 Jahre alt und lebte damals im heutigen Mecklenburg-Vorpommern. Flucht, Bomben und Kämpfe hat sie erlebt und überlebt. Wenn diese Erfahrungen durch Erzählungen und Berichte wieder „angetriggert“ werden, wird das traumatische Erleben wieder lebendig. Dass sich Frau M. aus der Erstarrung aufraffen kann, sich zu erheben und den Raum zu verlassen, ist eher die Ausnahme. Die meisten alten Menschen, die Ähnliches erleben, bleiben in der Erstarrung gefangen, bis sie angesprochen werden.
Auch die ängstlichen Reaktionen auf Dunkelheit und auf den jungen Mann sprechen dafür, dass Frau M. in der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit oder später etwas Schlimmes widerfahren ist. Die Angehörigen wissen es nicht und sie redet nicht darüber. Doch ihr Körper, ihr Verhalten redet und erzählt, dass Dunkelheit und unbekannte junge Männer bei ihr große Angst auslösen. Vieles spricht somit dafür, dass Frau M. auch unter den Folgen traumatischer Erfahrungen leidet.
Demenz ist heute ein anerkannt relevantes Thema in der Altenhilfe. Das darf aber nicht dazu führen, dass jedes verstörende Verhalten alter Menschen der Demenz zugeschrieben wird. Wahrscheinlich ist Frau M. dement – auch. Sicher wird das nur die weitere Entwicklung zeigen, denn die Alzheimer-Demenz ist eine Ausschlussdiagnose.
Die Abgrenzung zu einem traumatischen Erleben, das im Alter reaktiviert werden kann, ist nicht leicht, denn manche Symptome der Demenz ähneln denen der Traumafolgen. Dazu gehören unter anderem:
- das Verstört-Sein
- die Unruhe
- die Ängste und Verunsicherungen
- das Vermeidungsverhalten
- die Scham.
Der große Unterschied ist der Schrecken, der in der Re-Traumatisierung wieder lebendig wird. Manche alte Menschen zeigen ihn in aggressiver Vorwärts-Verteidigung, andere fliehen in Panik oder versuchen es zumindest, viele erstarren.
Warum es so wichtig ist Traumafolgen von Demenzsymptomen zu unterscheiden:
- Die Menschen müssen in ihrem Erleben gewürdigt werden und sollten sich verstanden fühlen: „Ich sehe, dass es Ihnen nicht gut geht/dass sie erschrocken sind/dass Sie Panik haben ...“
- Man muss ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind, dass jemand an ihrer Seite ist und sie schützt – anders als damals, als sie allein waren oder alles allein tragen mussten.
- Menschen mit Demenz brauchen sinnlich-biografische Angebote, um ihr Gedächtnis des Erlebens zu aktivieren und damit das kognitive Gedächtnis zu unterstützen. Bei Menschen mit kriegstraumatischen Erfahrungen können solche Anregungen Angst machen und den traumatischen Schrecken wiederbeleben. Darauf sollten die Begleitenden eingestellt sein: Biografiearbeit kann die Symptomatik verstärken. In jedem Fall gilt, bei biografischen Angeboten besonders achtsam zu sein.