Vom Projekt in die Praxis
Pflicht, Kür - und die Lust auf Innovation...
Auf Projekte und neue Herausforderungen lassen sich Organisationen in der Regel ein, wenn sie wissen oder hoffen, dass der Zugewinn an Wissen und Erfahrung den Zeit- und Geldeinsatz ausgleicht. Verantwortlich für solche Einschätzungen ist vor allem die Führungsebene. Leitungskräfte müssen den Impuls aufnehmen und in ihre Teams bringen. Von der Fachkraft bis zum Hausmeister sollte keine Berufsgruppe außen vor bleiben, wenn es um das Thema Alter und Trauma geht. Schulung, Anleitung, Teamgespräche sind die Anfangsinvestition.
Damit die Aufbruchstimmung nicht im Alltag bald verpufft, braucht es außerdem auf Dauer Reflexionsräume für die Mitarbeitenden. Zwischen Teamsupervision und kollegialer Fallberatung sind alle Möglichkeiten des fachlichen Austauschs notwendig. Wohnbereichsleitungen haben hier eine erkennbare Schlüsselfunktion in den kooperierenden Einrichtungen des Verbundprojekts. Wenn sie mit im Boot sind, sorgen sie auch bei Neu-Einstellungen später für den Transfer des Wissens, zu dem auch die Haltung gehört.
Wichtig ist in jedem Fall das Startsignal „von oben“: Dieser Transfer ist uns wichtig. Er hilft uns bei der Arbeit und es hilft den alten Menschen mit ihren möglicherweise sehr belastenden Erfahrungen besser weiterzuleben.
„Druckpunkte“ und „faszinierbare Zonen“
Beim Aufruf neuer Themen reagieren auch engagierte Fachkräfte in der Altenpflege oft zunächst mit Abwehr. Erfahrungen aus 20 Jahren Pflegeversicherung haben ihnen vor allem dies gezeigt: Vieles wird zusätzlich verlangt, das ohne spezielles Wissen und zusätzliche Ressourcen nicht zu schaffen ist. Die Folge: Man fühlt sich schlecht verstanden und überfordert. In der Folge werden auch relevante und innovative Impulse für die eigene Arbeit als bloße „Theorie“ kritisiert und abgewertet. Weil jede Neuerung eben auch bedeutet, dass Routinen verlernt werden müssen, gelingt dann der Transfer von Wissen in die Praxis oft nicht.
Ein anderer Grund dürfte im Thema selbst liegen: Traumatische Belastungen älterer Menschen können Angst machen. Man fühlt sich ihnen nicht gewachsen. Die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Pflege blockieren die Veränderungsbereitschaft zusätzlich. Doch eine Besonderheit unterscheidet dieses Thema von anderen wichtigen Fachthemen deutlich: Hinter der Hochbelastung der Pflegenden und ihrer mögliche Abwehr gegenüber der wieder neuen Pflegeanforderung scheint ein weiteres, unbewusstes Thema auf. Die zweite und dritte Generation der Pflegenden hat Großeltern, Eltern oder Schwiegereltern. Sie hat nicht deren Traumata mitbekommen, aber die Traumafolgen, also die Ängste, den Schrecken, die Einsamkeit, den Rückzug, das Verloren- und Verwirrtsein. Der Transfer kann gelingen, wenn man dies berücksichtigt und es sogar schafft, an persönliche und private Erlebnisse und Erfahrungen der Profis als (belastete) Angehörige anzuknüpfen.
Drei Effekte, die überzeugen
1. Produktive Impulse für das manchmal fehlgesteuerte Thema Biografiearbeit
Oft kommt sie kaum über den Biografiebogen mit eher formalen biografischen Angaben hinaus. In der Biografiearbeit, zumal wenn sie den gängigen Vorgaben des MDK folgt, werden Interessen und Neigungen zwar abgefragt. Doch das Vertiefen und Anknüpfen in weiteren Biografiegesprächen bleibt aus. Nicht selten ersetzt das Gespräch mit den erwachsenen Kindern die vertiefte Beschäftigung mit dem alten Menschen vollständig. Traumata bleiben so unerkannt. Sie mitzuteilen setzt gewachsenes Vertrauen voraus.
Dass eine adäquate, unterstützende Erinnerungsarbeit möglich ist, zeigt das Angebot der Wertschätzungsgruppe im Projektverbund Alter und Trauma. Eine entscheidende Folge von Traumaerfahrungen ist verringerte Selbstwertschätzung - das Wissen, Objekt gewesen und ausgeliefert zu sein. Über die Wertschätzungsgruppe gelingt der Zugang und der Einstieg in eine fokussierende Biografiearbeit.
Die Angst vor dem „unkontrollierten Aufbrechen“, dem Hochschaukeln durch Erinnerungsarbeit, kann eine Hürde sein, die methodisch und inhaltlich erst genommen werden muss. Sie ist aber nicht begründet, wenn das Zuhören und Erzählen in einer Atmosphäre von Vertrauen und gezügelter Neugier passiert. Dann bietet die Methode neue Impulse für eine produktive, hilfreiche Biografiearbeit.
Das gilt nicht zuletzt auch für die Fachkräfte selbst. Vorträge und Impulsveranstaltungen im Projekt Alter und Trauma zeigen: Wenn sie persönliche Anknüpfungspunkte im Thema finden, sich z.B. an die eigenen Eltern und deren „merkwürdige“ Verhaltensweisen erinnert fühlen, sind sie offen für das Thema, wollen eigene Beobachtungen klären und auch fachlich mehr wissen. Das strahlt im Alltag unmittelbar aus, beispielsweise wenn es um die heute alte oder hochaltrige Männergeneration geht. Bislang galt sie als Krieg führende Generation und blieb in der Traumabetrachtung oft außen vor. Heute sind die Kinder dieser Väter in den Altenheimen. Ihre Themen Vaterlosigkeit, Parentisierung, Einnehmen der Vaterrolle bei den Kriegskindern spielen in der Alterstherapie längst eine zentrale Rolle. Über Ohnmacht und Schwäche reden, ist heute aber eher möglich. Die Wertschätzungsgruppe ist ein guter Ort und das adäquate Angebot für wirkliche „Biografiearbeit“.
2. Den Blick schärfen für die Risikoräume in der Pflege
Wirkt die eigene Pflegeeinrichtung nicht als Schutzraum, sondern verstärkt unter Umständen die Gefühle von Ohnmacht, mit der traumatisierte ältere Menschen zu kämpfen haben? Das Thema Alter und Trauma fordert auch auf, die eigenen Routinen und Abläufe kritisch zu hinterfragen. Es gibt genügend Anhaltspunkte, dass schon die Aufnahme in das Pflegeheim von den Betroffenen als bedrohlich erlebt wird. Das Credo dieser Generation „nicht ins Heim“ erinnert stark an die Drohung, die diese Kindergeneration zahlreich erfahren hat: „Wenn du nicht... kommst du ins Heim“. Es ist möglich, dass sich manche an die „Kinderlandverschickung“ erinnern oder mit der neuerlichen Institutionalisierung im Alter Kriegskinderängste wach werden - die Eltern zu verlieren war schließlich eine sehr reale Bedrohung.
Es gibt weitere risikogeneigte Pflegesituationen. Nicht nur Pflege an sich, sondern schon das Begutachtungsverfahren gehört nach Ansicht der Fachleute dazu. Sich zu offenbaren und bewertet zu werden, rührt u.U. an alte Erfahrungen „Hoffentlich gehöre ich nicht auch zu denen, die dann nie wieder auftauchen“. Und auch diese Frage kann und soll reflektiert werden: Wie vertraulich gehen wir um mit erfahrenen Details der Lebensgeschichte? Alle sollten sie kennen, sie gehören in die Dokumentation. Doch wenn es um gravierende Lebensereignisse geht, die nur einer Person anvertraut wurden – wie gehen wir damit um? Wenn Organisationen hier ihre Antworten finden, umsteuern und klüger werden, hat das entscheidend Einfluss auf die Versorgung und Unterstützung der alten Menschen.
3. Wirksam werden
Es spart Zeit, sich mit Traumata auszukennen, ihre Wirkung und ihre Ursachen zu verstehen. Es gibt weniger Krisen im Pflegealltag, wenn man mehr weiß und besser reagieren, die richtige Unterstützung anbieten kann. Die Leitfragen „Was haben die Pflegenden davon? Was hat die Organisation davon, sich mit Re-Traumatisierungen im Alter zu beschäftigen?“, sollten indes nicht als rein betriebswirtschaftliche Merkmale missverstanden werden. Sie zielen vielmehr unmittelbar auf das berufliche Selbstverständnis engagierter Fachkräfte der Altenpflege.
Wer in bewussten, reflektierten, auch kleinen Begegnungen mit alten Menschen zuhört, hinschaut und beruhigt, erlebt vor allem wieder, dass Pflege „auch anders geht“. Wieder wirksam werden im Kontakt mit alten Menschen, bedeutet befriedigendes und befriedendes Arbeiten. Das ist der Gewinn, über den man sich im Team wunderbar verständigen kann. Das bereichert den Arbeitsalltag und wirkt in die Organisation zurück in Form von Arbeitszufriedenheit und Entspanntheit.
Das große Thema vollzieht sich in der Praxis in den kleinen Schritten. Hier kann man wirkungsvoll unterstützen - immer so gut wie es geht, entlang der Bereitschaft der Menschen, um die es geht und entlang der Möglichkeiten der Organisation, in der sie versorgt werden. Dran bleiben, nicht gegen Windmühlen kämpfen, sondern über Umwege, Subversivität, Nischen suchen, am Ende auch die dicken Bretter bohren - das ist Erfahrung des Projekts Alter und Trauma.
Jedes neue Thema in der Altenpflege und -hilfe hat eine Chance, wenn es „die Organisation fasziniert und irritiert“. Der Leitgedanke des Pflegewissenschaftlers Prof. Dr. Manfred Borutta (Katholische Hochschule NRW, Abt. Aachen) hat beim Expertensymposium des Verbundprojektes Alter und Trauma am 22.10.2015 zu einem angeregten Erfahrungsaustausch unter 25 Fachleuten aus Politik, Wissenschaft und Altenpflege-Praxis geführt.
Auf Projekte lassen sich in der Regel die üblichen Verdächtigen (Organisationen) ein. Darauf wies Prof. Dr. Frank Weidner vom Deutschen Institut für angewandte Pflegewissenschaft e.V. (dip) hin. Er setzt für den Transfer in eine erweiterte Praxis vor allem auf die bislang noch wenigen „Schwellenorganisationen“, solche, die nur zu bereit sind, ihre Praxis weiter zu entwickeln, die aber dabei auf Impulse und Unterstützung angewiesen sind. Sie können durchaus überzeugt werden. Dennoch ist „Bescheidenheit“ nötig: „Ohne Anknüpfungspunkte in der Organisation und bei den Mitarbeitenden“ hat das Thema keine Chance“.