Spuren und Verhärtungen der Not -
Erbschaften eines Lebens und Nachwirkungen auf die folgenden Generationen

Armut und Härte

Die Mutter von Frau W. starb an Herzversagen, der Vater war ein Jahr zuvor an Krebs gestorben. Die Kinder waren völlig überrascht, als sie entdeckten, dass die Eltern im Besitz dreier Mietshäuser und eines sechsstelligen Vermögens an Pfandbriefen waren. Sie waren in Armut groß geworden und hatten von den Eltern immer nur gehört, dass es kein Geld gäbe, dass man jeden Groschen zweimal umdrehen müsse und sich nichts leisten könne. Die Eltern waren in Krefeld „ausgebombt“ worden und nie in den Urlaub gefahren, weil „für so etwas kein Geld da“ war. An Geschenken gab es nur Selbstgestricktes und Selbstgemachtes.

Solche Geschichten sind in der therapeutischen Arbeit allgegenwärtig. Der Hintergrund ist, wenn man ihn kennt, zumeist nachvollziehbar, so abstrus und unerklärlich das Verhalten zunächst zu sein scheint. Die hier beschriebene Familie hatte in der Kriegs- und Nachkriegszeit große Not erfahren. Aus dem Erleben dieser Not ist sie nie mehr herausgetreten. Manche Menschen reagieren auf Hunger, indem sie maßlos essen, andere bleiben in der Dauerdiät eines Lebens. Diese Familie blieb in der Armut und trug diese Armut wie ein stolzes Schild vor sich her. Gleichzeitig wurde vorgesorgt, aber heimlich („Man kann ja nie wissen“). Jeder Pfennig wurde gespart, um für die Not vorzusorgen.

Die Kinder fühlten sich verständlicherweise belogen und betrogen. Ihre Eltern waren jedoch krank, zumindest in dieser Hinsicht. Sie lebten in der Wahnwelt der bitteren Armut und Not der Kriegsjahre. Die Welt, wie sie sie erlebt hatten, blieb auch ihre Erlebenswelt, als die Not vorbei war.

Dass nicht nur die Generation leidet, die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit erlebt hat, belegen viele Beispiele. Ermutigt durch öffentliche Debatten über Gewalt gegen Heimkinder und in Familien berichten heute immer mehr erwachsene Kinder von Härte und Strenge in ihrer Erziehung. Eine Härte, die weitergegeben wurde trotz der Katastrophen, die sie mit verursacht hatte.

Ein 52-jähriger Mann erzählt: „Mein Vater war streng, ja mehr als das, er war brutal hart gegen sich, aber auch gegen andere. Wenn ich von ihm etwas wollte, hieß es nur, dass das nicht gehe: ‚Das hatte ich auch nicht!‘ Wenn ich satt war, musste ich trotzdem aufessen, wenn mir etwas nicht schmeckte, musste ich ebenfalls alles aufessen und bekam von dem, was ich nicht wollte, sogar noch einen Nachschlag, ‚damit du lernst, wie man mit Nahrung umzugehen hat‘. Einmal musste ich sogar angeschimmeltes Brot aufessen, das ich in meiner Schultasche vergessen hatte. Und Schläge gab es, das war schon normal, das war schon Alltag, immer wieder Schläge, und Weinen war verboten. ‚In Russland konnten wir auch nicht weinen, da mussten wir hart sein, das braucht man zum Überleben.‘ Mein Vater war vier Jahre in russischer Gefangenschaft und hat überlebt. Vermutlich ist er dadurch so geworden wie er war. Aber was kann ich dafür?“

Härte, Brutalität und Rohheit können Symptome sein, in denen sich Kriegs- und Nachkriegserfahrungen wiederholen. Die Betroffenen können, verhärtet wie sie sind, häufig bis an ihr Lebensende mit ihren Angehörigen kaum oder keine Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe erfahren. Darunter leiden aber noch mehr unschuldige Menschen, vor allem die Kinder.